Nebel in den Köpfen

Es gab diese Zeit, in der alles noch schlimmer zu werden schien, und doch alles irgendwie so blieb, wie es zuvor schon war. Man konnte einkaufen und seine Sachen auf den Ämtern erledigen, sogar die Banken liehen noch Geld. Nur wenn man sich umsah unter den Menschen, so wie das Cordula Wolke, eine Briefzustellerin, gerne tat, dann spürte sie, da war in den Menschen so etwas wie Nebel. Keiner blickte in dem, was um ihn herum vor sich ging, mehr richtig durch. Der Mensch kann bekanntlich vieles überstehen, und mancher bevorzugt auch in besseren, klareren Zeiten alkoholische Flüssigkeiten, um das Gegenteil zu erreichen, möglichst schnell all das nicht mehr sehen zu müssen, was in seiner Wirklichkeit unerträglich ist.

Aber jetzt, fand Frau Wolke, war diese Benebelung nicht durch allgemeine Veralkoholisierung verursacht worden, sondern ohne alles, einfach so und wirkte in der riesigen Masse des jetzigen Auftretens nur noch deprimierend, verdunkelnd, krank.

Sie dachte: So kann das nicht weiter gehen. Ich muss etwas dagegen tun. So begann sie, jedem von ihr zugestellten Brief einen sichtbar roten Kussmund aufzudrücken. Und wenn der Empfänger nach ihrem Sprachempfinden einen schönen Namen hatte, schrieb sie dazu: Ich denke an Sie! Hören Sie mehr auf Ihr Herzen! Und: Alles Liebe!

Nun weiß man leider aus Erfahrung, solche Zustellerinnen gibt es nicht. Sie sind nur eine schöne Erfindung. Die wenigsten Menschen in Anstellung mit einem Chef über ihnen, dem sie über ihr Handeln Rechenschaft zu geben verpflichtet sind, hätten den Mut, sich für die Verbesserung des Zustands der Allgemeinheit so weit vor die eigene sichere Haustür zu wagen. Zudem würde jede reale Zustellerin befürchten, durch ein derart unkonventionelles Verhalten ihren Job zu verlieren. Aber vielleicht liest genau jetzt eine mir noch unbekannte Zustellerin oder ein Zusteller diesen Text und entschließt sich, die gegenwärtige allgemeine Notlage zum Anlass zu nehmen, um neue Formen der mitmenschlichen Kommunikation zu entwickeln. Und, glauben Sie mir, schon ein freundliches, echtes Wort, ein kleiner Satz, der aufmuntern will, ist besser als weitere Töpfe mit schwarzer Farbe vor den Büroräumen der apokalyptischen Stimmungsmacher in Medien und den Untergangsspezialisten in Wirtschaft und Politik!