Die Wahrheit über die Gestalt der Zahlen

Die 1, das ist der gemeine Soldat unter den Zahlen. Aufrecht, jedoch den Kopf leicht gesenkt. Sie steht senkrecht, eben wie eine „1“, aber wofür? Das lässt sich nur erahnen. Betrachtet man sie genauer, erkennt man leicht, dass die 1 ein verstümmelter, nach oben gerichteter Pfeil ist, an dessen Spitze der rechte Teil abhanden kam. Das kann sie leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Da hilft nur die Anlehnung an andere Zahlen, bevorzugt an Gleichgesinnte. Dadurch werden die Einsen zu einem Staketenzaun, da wird der Aufstrich-Abstrich zu einem einfältigen 1 + 1 + 1, zur schlichten Massenexistenz. Still gestanden! Rührt Euch!

Das ließe eine 2 niemals mit sich mache. So stolz wie sie ist auf ihr solides Fundament und ihren langen Schwanenhals. Als Form vollendet (denn was könnte schöner sein als die Verbindung der Gegensätze: Linie, Winkel, weiter Bogen)! Hätte sie nicht eine Vergangenheit, die in längst verblasste ägyptische Zeiten zurück reicht, man könnte sie für ein Produkt aus einem modernen Designerbüro halten. Und man könnte verführt sein zu sagen, sie sei die Zahl aller Paare: Wo sie ist, gibt es keine Einsamkeit, aber so einfach ist das nicht. Ihr Fundament ist eine liegende Eins, darüber erhebt sich der obere Teil eines Fragezeichens: Sie zeigt also, woraus das Paar hervorgegangen ist und dass es immer auch infragegestellt bleibt.

Was der 2 zur letzten, absoluten Schönheit fehlt, das kann die 3 bieten: Symmetrie. Aber um welchen Preis! Um den einer seltsam horizontalen Mittellinie. Und gäbe es da nicht im Kopf des Entzifferers eine andere Zahl, die vollendete 8, man würde die 3 nicht mit ihr vergleichen und feststellen, dass die 3 unter dem Verlust ihrer linken Hälfte leidet. Unwillkürlich stellt man sich die Frage: Was ist geschehen? warum fehlt der 3 ein Stück? Wer hat diese beiden instabilen, aufeinander gestapelten Bogen zu aufgeschnitten luftig zurückgelassen? Oder war es die Absicht eines Zahlenspielers, der zu den geschlossenen Formen stets auch die offenen Varianten erfand?

Die 4 steht – optisch gesehen – nur mit einem Bein auf dem Boden, ist nach der einen Seite hin verschlossen, nach der anderen offen. Zur Symmetrie hat es nicht ganz gereicht. Alles etwas zu eckig, zu steif. Im Zentrum ein Kreuzungspunkt, also ein Ort, der als etwas Besonderes gekennzeichnet ist. Davon ausgehend der dachartige Aufstrich wie die Linie zu einer genaueren Erklärung dieser Besonderheit. Aber dort ist nur ein leerer Raum. Weiter nichts. Man kann die Form der 4 jedoch auch von oben nach unten lesen: Der lange Strich und der angewinkelte Querstrich, das ist eine Sense, die gerade etwas schneidet. Dann wäre die 4 ein Zeichen für den Reichtum der Ernte. Wäre der Mittelstrich nur etwas länger, könnte man auch ein Segel darin erkennen, das heißt, die 4 lesen als die Zahl der Arbeit, der ländlichen wie der auf dem Meer. Mehr als diese Mutmaßung gibt sie dem Betrachter jedoch nicht preis.

Die 5 ist eine Anspruchsvolle, sie ist nach allen Seiten offen. Gleicht einem S und will doch etwas anderes sein: unten weich, oben klar und ordentlich. Das sind Kopf und Bauch mit ihren Widersprüchen, aber sie bestehen hier nur aus trotzigem Begehren, aus Behauptung und Bebauchung sozusagen, denn ein geschlossener Körper ist bei der 5 nicht sichtbar. Was? Sie will nicht so gesehen werden? Bitte, zur Besänftigung, noch eine andere Interpretation geboten: von unten her eine schnelle Bewegung, ähnlich einem Aufschwung am Reck, dann Winkel, Linie, Winkel, Linie. Das heißt: etwas Freies, das in Exaktheit übergeht; da ließe sich an Kunst, Mode und Architektur denken. Ist Madame Cinque deshalb schon eine künstlerische Natur? Nein, denn so wie sie geschrieben wird, vorne oben beginnend, dann der Strich, der nach unten gleitet und in einem letzten, neu angesetzten Querstrich oben endet, das erinnert eher an einen Fleischerhaken oder an eine der heute nicht mehr gebräuchlichen Handwaagen. Pardon, aber da geht es um Verkauf und Berechnung, und nicht um Freiheit und die Schönheit der inneren Natur.

Ach, arme 6, was haben die Menschen, will sagen, die Männer, aus dir gemacht? Nur weil du aussiehst, wie sie sich gerne im Profil sehen, unten das pralle Säcklein und oben das erigierte bisschen was. Man sollte dabei nicht vergessen, dass zu den meisten dieser erregenden Praktiken zwei Partner gehören. Und, bitte, wo ist die Partnerin? Die 9 vielleicht? Aber da fehlt ja der gesamte Unterleib! – Also, sich selbst zur Nüchternheit ermahnt und die 6 erneut betrachtet: Da ist unten eine kleine Null und ein davonfliegender Schwa…, nein, Schweif, erinnert an einen Kometen oder an einen jungen Trieb, der… Halt! Das darf nicht wahr sein! Wie man‘s dreht und wendet, die 6 ist und bleibt einfach ein Sexsymbol. Diese Zahl hat‘s wirklich nicht leicht.

Die 7 dagegen hat mit Sex nicht das Geringste zu tun. Man kann sogar sagen, sie ist das völlige Gegenteil der 6, keine Spur von deren explodierender, exzentrischer Energie. Vielmehr wirkt sie wie ein körperloser Herr im Business-Anzug. oder wie das Abbild einer Karriereleiter. Wer sie in Händen hält, weiß: Früher war sie (war er, der hinauf will) eine 1, aber jetzt ist er einen entscheidenden Schritt weitergekommen, nach oben genauer gesagt. Jetzt hat er zwar ein leicht schräges, aber gut versteiftes Rückgrat, und er weiß: Man ist mit sich immer in der Mehrzahl, spricht von „Wir“, dem Vorstand. Ist stets gradlinig und mit dem Kopf nach vorwärts drängend, trägt die Fahne des Unternehmens – auch so lässt sich die 7 lesen – vor sich oder in persönlicher Verkörperung in sich mit sich oder irgendwie so eben her. Ein zweites Standbein täte gut (so eines wie es das A bei den Buchstaben hat), aber da ist nun mal leider nichts zu machen. Wer nach oben will, könnte an der 7 noch etwas erkennen: Es kann auch wieder nach unten gehen. Erfolg ist eben nichts Stabiles. Das ist zwar eine Binsenweisheit Doch erstaunlicherweise glauben die Anhänger der 7er Klasse weder an solche Gesetze der Natur noch an die Sache mit der Schwerkraft und der Entropie.

Die 8 hatte schon einen kurzen Auftritt, als Beweismittel für die Unvollständigkeit der 3 und als Modell für deren Gegenteil, die Vollendung. Und das ist sie auch: der ewige Wandel, der mehr ist als ein ständiger Kreisverkehr. So wie sie dasteht in der Zahlenlandschaft mit ihren zwei sich in einem Kreuzpunkt schneidenden, symmetrischen Linien: einfach erstaunlich ist das und wunderschön! Sie hat etwas von einer Schleife und von einer die Qualität einer Sache erhöhenden Umlaufbahn. Somit könnte man sagen: Sie ist ein Symbol der Evolution. Schreibt man eine 8, so ist es, als führe der Stift Achterbahn und erzeuge Spannung und Bewegung, so dass einem dabei nur das Zeichen der Kinder für den Menschen noch einfallen kann: die zwei Nullen übereinander, also eigentlich eine Acht. Aber leider ist das in der Realität dann doch eher so, dass mancher mehr eine vertikalen Addition von Nullen als der Vollendung dieser Zahl gleicht. Aber lassen wir die 8 weiter ihre gegensätzlichen Kreise ziehen! So verschlossen und geheimnisvoll wie sie ist, wird auch sie allein wissen, was sie letztlich antreibt und sie zu einer Art perpetuum mobile macht.

Die 9. Oh, oh, was für eine Zahl! Wer sie schreibt, setzt wie bei der 1 und der 2 irgendwo im luftigen Raum zum Schreibstrich an, lässt seinen Stift in einem expressiven Bogen von sich weg laufen und landet dann wie ein Turner nach vollendeter Übung etwas hart, aber sicher auf dem festen Boden. Man kann es nicht leugnen, dass – wer es will – wieder die 6 in ihr sieht. Aber die 9 wäre dann der Zustand nach dem großen Erleben. Besser ist es, sie sich befreit davon nur der Form folgend, anzusehen. oben eine kleine 0, davon abgehend ein Bogen wie bei der 2. Ja, da gibt es eine formale Nähe, man denke nur an die Grundlinie er 2, vom Boden gelöst, gebogen und nach oben versetzt. Und schon wäre aus der 2 eine 9 geworden. Im Gegensatz zur 1 oder zur 0, diesen einfachen zeichnerischen Grundelementen aus Strichen oder Bögen, ist die 9 (wie die 2, die 3, die 4, die 5) eine Formenkombination. Ähnlich wie die 6 und die 8 eine Formenkombination aus reinen Bögen, nicht wie die 2 und die 5, die Striche und Bögen, Geradliniges und Geschwungenes kombinieren, in sich zu einer schwierigen Einheit zusammenziehen. Nebenbei bemerkt: die 5 ist einer auf den Kopf gestellten 2 durchaus ähnlich. Oder umgekehrt, gang wie man will. Aber zurück zur 9: Wer einen so großen Kopf und nur ein Bein hat, kann nur ein Denker sein. Und wer dabei auch noch kurz vor der ordnenden 10 kommt, dessen Denken kann nur wild und ungewöhnlich sein. Sie erlaubt sich, was den Beamten unter den Zahlen – das sind die mit den Nullen hinten dran – nie in die einfachen Linien und Rundungen kommen würde: Sie will die Ideen in ihrem Kopf auf das eine Bein stellen. Aber – oh je – man ahnt es schon: das wackelt alles. Das wird nicht gut gehen. Schon ruft sie eine der anderen Zahlen zu Hilfe. Es würde sich lohnen zu beobachten, ob die 9 seltener als andere Zahlen alleinstehend ist. Leider findet sie oft nur Halt an ihresgleichen, das wirkt noch unvollkommener, riecht nach Rabatt, Preisnachlass, Lockangebot für Schnäppchenjäger. Und ist auch noch für die vielen wertlosen Kupfermünzen im Portemonnaie verantwortlich. Ist es nicht so: Wer ein schlechtes Renommée hat, verhält sich auch so? Kein Wunder, dass die Menschen sie nicht lieben. Sie ist eben nichts Ganzes.

Bleibt die Null. Und die Frage: Ist das überhaupt eine Zahl? Sicher sie ist genügsam. Im Grunde verwundert, dass sie überhaupt existiert. Ein Ring um eine Leere, und vielleicht erkennt nur der flüchtige Betrachter nicht den Saturnkern innerhalb dieser Umlaufbahn beschleunigter Materie. Die 0 ist nicht geeignet, dieses Phänomen anderen als wichtig darzustellen. Es kann so sein oder nicht. Die Null ist nur so real wie eine Diaprojektion oder wie ein Platzhalter für Abwesendes. Aber dennoch ist sie ebenso vollendet wie die 8, mit ihr über die Punkte der maximalen vertikalen Ausdehnung einig, an denen man sich wenden und zum Ausgangspunkt zurückkehren muss. Anders aber als die 8, kehrt man an diesen Punkt unverändert zurück. Hat nur einen Kreis zurückgelegt. Nichts hat sich ereignet. Es ist als wäre man nie aufgebrochen. Alltag eben. Was kann man noch über die Null sagen? Dass sie dem mittelalterlichen Symbol für den Wechsel der guten und schlechten Zeiten ähnelt, dem Schicksalsrad. Und sonst? Das Nichts, das zugleich Alles ist? Sie eine philosophische Zahl ist? Aber so etwas kann nur denken, wer sich von aller Materie losgesagt und nicht mehr auf etwas Reales Hunger hat. Damit könnte man einer 1 oder einer 2, einer 3, 4, 5, ja auch einer 6, schon gar nicht der 7 kommen, die 8 könnte Verständnis haben, aber die 9, nein, die 9 sicher nicht. So bleibt die Null letztlich den anderen fremd und gerne für sich oder wie die 9 mit ihresgleichen, aber ständig misstrauisch gegen Missbrauch bei der Stellung hinter anderen Zahlen, die eine Macht und Wichtigkeit andeuten, die sie selbst nicht kennt. Und sie fühlt sich unverstanden. Besonders wenn jemand über sie sagt: Sie bedeute ihm Null Komma Nichts.