Von wegen nur Bäume

Da sind Wege, und links und rechts davon Bäume, viele Bäume, unzählige Bäume
und ich gehe den Blick nach vorne und unten gerichtet
um nicht anzustoßen
um nicht zu fallen
Gar nicht mehr vorzustellen, wie Wandern ohne Handy war…

Dies ist ein Wald, ein Wald mit Unterholz
So etwas muss die Hölle für einen Blinden sein
überall Gestrüpp und Geäst
sich hier zu verirren bedeutete
sich die Haut zu einem blutenden Gebirge zu machen

aber ich der ich sehen kann, was vor mir ist
ich gehe unbeschadet hindurch
In diesem kultivierten Wald stehen die Bäume nicht so dicht
wie da wo es viel Unterholz gibt
das nicht g e l i c h t e t worden ist
durch Waldarbeiter
diese Scharfrichter im Auftrag der Forstverwaltungen
im Auftrag der Überlebensauswahl
Weg mit diesem Trieb da
weg mit jener Pflanze dort
alles logisch begründbar
mit nötigen neuen Wegen und Holzabfuhrstraßen

Dann gehe ich langsamer, dann stehe ich
und schließlich setze ich mich auf eine Bank
dann schaue ich mir die Bäume an
ich habe gelernt zu unterscheiden
das hier das sind Buchen
das hier das sind Eichen
das dort das sind Kiefern
Auf dem Boden liegt das Laub
schon braun wie Erde
und ist an keiner botanischen Ordnung mehr interessiert
die Ex-Blätter aller Sorten bereits
für das bevorstehende Natur-Recycling zusammen gemischt

Im Gehen kann ich nicht sehen
was um mich geschieht
ich muss auf den Weg achten
dass ich nicht falle
wie gesagt
Nur im Sitzen habe ich genügend Ruhe, um
die Ohren w e i t aufzumachen
und die Unruhe des Waldes zu hören
Wind scheucht die noch an den Bäumen hängenden Blätter auf
es raschelt über und hinter mir
Oder ist es ein Vogel, ein Eichhörnchen, eine Maus?
Lauern sie da
beobachten den Fremden hier, mich?
Ein morscher Ast bricht ab und stürzt herab
Wer Stille sucht, denke ich
sollte sich in seinen Keller setzen
Hier ist es nicht ruhig

Und dann sehe ich das kreiselnde Niedergleiten eines von seiner Sommerarbeit befreiten
eines von seinem Baum entlassenen Blatts
eine Sekunde zwischen nährender Verbindung und tödlicher Aussetzung
eine Sekunde völliger F R E I H E I T!
Angenommen, ein Blatt hätte ein Bewusstsein: Wie würde es sich in diesen Moment der Trennung fühlen?
Auf der anderen Seite, genauer gesagt von hier unten bis weit nach oben, befindet sich weiter mit Wurzeln ans Leben gebunden der Baum, der jetzt im Herbst seine Blätter fallen lässt. Einfach so, weil es Zeit dafür ist. Der Sommer ist vorüber. Was nicht mehr gebraucht wird, wird ausgesetzt und in den Tod geschickt. Natur ist da grausam und weit von allem humanistischen Denken entfernt.

Ich frage mich weiter (und kann auch die Bäume nicht fragen, weil mir kein Baum eine Antwort geben wird. Die Fähigkeit, magisch zu denken, habe ich am Ende meiner Kindheit verloren.) Ich frage mich also: Wie entscheidet der Baum (die Bäumin?), an welcher Stelle er (oder sie) sich gabeln oder Äste austreiben will? Ehrlich gesagt, so phallisch wie die da herumstehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass auch nur einer weiblich ist. Aber in der deutschen Sprache ist ihnen nun einmal das weibliche Geschlecht zugewiesen. Sonst wäre ich nicht auf die Idee mit der Bäumin gekommen. Da stimmt etwas nicht. Ich empfehle, in Zukunft zu sagen: der Buch, der Eich, der Tann, der Ficht.
Vielleicht ist das mit den Ästen auch nur eine Frage der Balance, der Suche nach dem richtigen Gleichgewicht
zwischen oben und unten und den verschiedenen Seiten
eben rundherum all das andere
was nicht Stamm und Wurzel ist
Von einem so festen Platz
lebenslänglicher Verortung aus
denke ich
lässt sich die ganze Welt im Verhältnis zur eigenen Existenz
klar, eindeutig und genau bestimmen
ganz subjektiv versteht sich
(das meine ich als Mensch über den Baum
mich an seine Stelle setzend, mich mit ihm identifizierend)
sofern man das will und als Baum nicht einfach damit zufrieden wäre
dass der menschliche Henker mit der Motorsäge
auch im vergangenen Winter glücklicherweise einfach
wieder vorbei gegangen ist und andere umgelegt hat

An einem Baum, ganz in meiner Nähe, webt eine Spinne ihr Netz
mit eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Beinen
ein so kleines Hirn macht etwas
was mir nicht gelingen würde
ich bewundere sie
Ich stehe auf und gehe weiter
auf meinen 2 Beinen
und meinen daran befindlichen 2 Füßen
ich gehe den einen Weg weiter
der zu dem Ziel führt
das ich an diesem Tag erreichen möchte

Der Wald macht mir klar
ich bin nur ein Besucher hier
Ich gehöre hier nicht her