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Schöne Vorstellung
Sie hat mit beiden Händen die Kapuze über den Kopf gezogen. Das kommt selten vor. Ich meine, mit beiden Händen. Die meisten machen das mit einer Hand. Nun hängen die Arme wieder herunter und es sieht aus, als rudere sie damit durch die Straße. Klar, sie hat kein Boot unter den Füßen. Da ist kein Wasser. Da ist Boden und ich sehe ihre Beine. Es ist eine Straße. Kein Fluss.
Aber wäre es nicht eine schöne Vorstellung, es gäbe keine Straßen? Nur Flüsse. Ganz Europa sähe aus wie Venedig. Auf der Oberfläche dieser vielen Flüsse würde sich das Licht spiegeln. Es würde glitzern und die Augen und Köpfe verzaubern. Einfach so, ohne jeden Nutzen. Brückenkonstrukteur wäre ein weit verbreiteter Beruf. Aber die Luft wäre noch feuchter über Europa und in den kalten Jahreszeiten gäbe es mehr Nebel. Hat eben alles seine Rückseiten. Zudem könnte man seine Beine nicht mehr so gut gebrauchen, dafür wären die Arme stärker gefragt. Zum Rudern, Steuern, die Halteleinen auswerfen, Ankern, Treideln, Segeln.
Jetzt hat sie aufgehört zu rudern. Steht still. Scheint zu überlegen, was zu tun ist. Steht immer noch am selben Ort. Lässt die Zeit verstreichen. Ja, Wasser macht träge. Auch wenn es nur durch die Vorstellung fließt. Durch die Straßen der Welt im eigenen Kopf.
Es ist gut, manchmal für andere unvermittelt stehen zu bleiben. Sich umzusehen, zu überlegen, ob es Alternativen zur eigenen Bewegungsrichtung gibt. Diese junge Frau zum Beispiel könnte ab jetzt – wie man so sagt – auf allen Vieren kriechen, sich wie ein Tier bewegen, krabbeln, sich ansehen, wie die Welt aus deren Augenhöhe aussieht. Oder sie könnte sich mit dem ganzen Körper auf den Boden werfen, robben und so versuchen, die Weltsicht von Echsen und Kröten zu verstehen.
Oder sie könnte, jetzt hier mitten in der Stadt, sich auf die Spontaneität ihrer Kinderzeit zurückbesinnen und einfach einmal laut schreien, als Anklage, als Echo, als Mahnruf: Menschen, wo seid Ihr, wo seid Ihr Menschen? Die Interpretation dieses Rufes ist nicht mehr ihre Aufgabe. Sie ist als Teil einer unsichtbaren Masse nur kurz aus deren Schatten getreten. Riskiert, betrachtet, verachtet, staatlich geprüft zu werden. Das nenne ich Zivilcourage!
Sie könnte auch den Rest ihres geplanten Weges auf einem Bein hüpfen oder wie ein Bergsteiger über die Häuser klettern, um sich nicht länger von den Straßenverläufen der Geschichte und Gegenwart den eigenen Weg vorschreiben zu lassen. Das alles könnte sie, jeden Augenblick. Allein eine Frage der geistigen Freiheit, der Fähigkeit zu einer eigenen Entscheidung.
Oder sie könnte einen Gullideckel öffnen und zu den letzten gesetzlosen Existenzen hinabsteigen, die sich ihr vielleicht mit “Gestatten, Ratten!” vorstellen würden. Was würde sie dort finden? Pläne für eine nächste Revolution: für die Übernahme auch der realen Macht durch diese heimlichen Beherrscher des Planeten? Oder nur die Demonstration des hier gültigen paradiesischen Grundprinzips “Alles Gute von oben”? Aber sie tut es nicht. Steht noch immer unentschlossen da.
Ah ja! Jetzt scheint sie mich gesehen zu haben. Wie ich da stehe, sie sehe und staune. Denn sie nimmt ihren linken Fuß in ihre rechte Hand. Sie hat sich entschieden, sie wird gleich hüpfen. Prima! Wunderbar! Schön!
Sie hat verstanden, was ich meine: Die Wirklichkeit ist mehr als das, was geschieht. Die wirkliche Wirklichkeit umfasst auch das Mögliche: Alle Seitenwege, alles Fremde, Andersartige, Ungelebte.
Jetzt ist sie weg. Nicht mehr zu sehen. Schade, dass sie nicht gewartet hat, bis mein schönes neues Schlauchboot fertig aufgeblasen war.
Bernhard Zilling